Die Katze beißt sich in den Schwanz. Je mehr die Akteure versuchen, sich aus der Stallregie-Nummer von Malaysia rauszureden, desto schlimmer wird alles. Und im riesigen Fahrerlager von Schanghai mangelt es dieser Tage nicht an Erklärungsversuchen. Vor allem von Sebastian Vettel.
Der Hesse ist zwar allgemein als Übeltäter ausgemacht. Doch statt sich wie in Sepang in Demut zu üben, geht er inzwischen in die Offensive. Sie dürfen sicher sein: Die Nadelstiche gegen Mark Webber sind nicht das alleinige Produkt seiner Denkarbeit zwischen den Asia-Wochenenden – sondern mit Red Bull-Motorsportberater Dr. Helmut Marko intensiv abgestimmt.
Es handelt sich um eine Demontage von Webber – vor allem aber um den Bau des eigenen Denkmals. Für Vettel – aber auch für den ehemalige Le Mans-Sieger aus Graz.
Denn jeder Sieg von Vettel ist auch ein persönlicher Triumph für den studierten Juristen. Sein Nachwuchssichtungsprogramm, von dem Limo-Unternehmen aus Fuschl mit vielen Millionen bezuschusst, stand in all’ den Jahren immer wieder in der Kritik – weil zu wenig Talente daraus hervorgingen oder weil Dr. Marko zu gnadenlos aussiebte. Vor allem inner-österreichisch schwelte lange ein Zwist, bei dem es zuging wie in Asterix’ „Der große Graben“: Dr. Marko auf der einen Seite, eine Fraktion mit Gerhard Berger und Franz Tost auf der anderen. Damals bildeten Berger und Tost noch eine Doppelspitze beim Junior-Team Toro Rosso. Sie wollten das einstige Minardi-Team aus der zugedachten Rolle als erste Station für Markos Geförderte in der Formel 1 rausbugsieren und zu einem vollwertigen Grand Prix-Team machen. Vor allem aber ging es darum, wer den direkten Zugang zu Firmenchef Dietrich Mateschitz hat. Eine Frage von Geld, Macht und Eitelkeiten.
Da ich seit jeher nicht nur die Formel 1, sondern auch alle möglichen Nachwuchsrennserien intensiv verfolge, bekam ich von dem Zwist mehr mit als die meisten meiner Kollegen. Was Tost und Marko gegenseitig über den anderen sagten, wenn der jeweils nicht dabei war – darüber könnte man ein eigenes Theaterstück schreiben.
Längst ist klar, wer sich in diesem Kleinkrieg durchgesetzt hat: Dr. Marko. Tost hat sich darin aufgerieben, Toro Rosso nach vorn zu bringen – ohne Erfolg. Jetzt wird er entmachtet, der neue starke Mann ist James Key, und wenn der Aufschwung kommt, dann ist das allein dessen Werk.
Die eigentlichen Opfer sind eine ganze Reihe junger Fahrer, die durchaus das Zeug zu mehr gehabt hätten – wenn Tost sie nicht für den Kampf missbraucht und geopfert hätte. Sébastien Buemi, der an diesem Wochenende in Silverstone einen Lauf zur Sportwagen-WM fährt, ist das plakativste Beispiel – aber nur eines von vielen. Dr. Marko ließ es geschehen, denn er führt selbst ein strenges Regiment: So lange er auch nur ein Talent findet, das den Durchbruch schafft – solange hat er alles richtig gemacht.
Inzwischen hat er zwei: Vettel – und den Portugiesen Antonio Félix da Costa, der Formel Renault fährt und am Wochenende in Schanghai erstmals als Ersatzfahrer vor Ort ist. Er dürfte Webber beerben, wenn der zu Porsches Le Mans-Projekt wechselt.
Vettel ist die fleischgewordene Bestätigung von Makros Idee des Sichtens und Förderns – aber auch Forderns. Deswegen wird zwischen Dr. Marko und Vettel auch nie mehr als eine Seite PITWALK passen. Egal, ob Mark Webber sich beklagt oder nicht: Vettel ist „the chosen one“, der Auserwählte. Das bringt jene Narrenfreiheit mit, die er jetzt in der Teamorder-Affäre ausgespielt hat.
Diese Konsequenz ist nicht neu. Man kann sie auch Besessenheit nennen. Vettel hat sie lange hinter seiner Lausbuben-Fassade versteckt. Aber wer sich mit ihm genauer befasst, kennt sie schon zur Genüge. Da war ein einst ein Lauf zur Formel Renault in Spa, bei dem er sich bei einem Ausritt am wirbelnden Lenkrad einen Daumen brach. Als wir ihn im Fahrerlager fotografieren wollten, versteckte er den Gips sofort hinterm Rücken – Bilder gab es nur von der gesunden Seite. Schwäche zeigen, irgendeinem anderen eine offene Flanke bieten? Nich’ mit Super-Seb. Dr. Marko stand daneben und lächelte wissend.
Vettel ist ein Mann mit zwei Gesichtern. Die nette Fassade hat Risse bekommen, seit er die Stallregie untergrub. Im Fahrerlager wird er trotzdem bald wieder alle umcharmen und einschmeicheln – und auf der Strecke nach wie vor das Alphatier geben. Er ist besser als Webber – und er weiß das.
Vor allem aber hat er ein gutes Gedächtnis. Und er merkt sich genau, wer ihn am Aufstieg hindern wollte. Das war auch Webber. Und zwar nicht als Teamkollege bei Red Bull, sondern schon vorher, als Vettel bei Toro Rosso sein Azubijahr fuhr. Ein altes englisches Sport-Sprichwort sagt: „Wahre Champions erkennen sofort, wenn ein neuer Superstar die Bühne betritt.“ Gegen den müssen sie dann ihr Revier verteidigen. Als Vettel dem damals auf Siegkurs fahrenden Webber in einer Safety Car-Phase im verregneten Fuji hinten drauffuhr, giftete der Aussie im sehr kleinen Kreis: „Immer dasselbe – die kleinsten Leute machen die größten Fehler.“ Bei der Giftspritze war nur ein einziger deutscher Journalist dabei – ich. Aber Vettel hörte natürlich davon, dafür sorgte schon die interne PR-Abteilung.
Der Übeltäter selbst saß derweil bei Toro Rosso und weinte. Dass die Öffentlichkeit das – dank des ausplaudernden Tost – erfuhr, war in Tateinheit mit Webbers kernigem Spruch eine Demütigung. Jetzt rückt er die Welt wieder gerade. Mit legitimen Mitteln, denn die Stallregie von Sepang ist und bleibt falsch.
Erst recht von einem Team, das von sich unwidersprochen behaupten durfte, man wende ja nie und nimmer Stallregie an. Diese Perversion muss man sich immer wieder aufs Neue vor Augen führen.
Wer jetzt über die Folgen der Eskalation räsoniert und sagt, Webber werde Vettel nicht mehr helfen – der hat völlig übersehen: Das hätte der Aussie auch ohne Malaysia nicht getan. Es hat sich also nichts geändert.
Außer, dass die wahre Ursache für die Teamanweisung auf dem Tisch liegt: die fragilen Pirelli-Reifen. Hätte die Formel 1 brauchbare Pneus, wäre wahrscheinlich nix passiert. Denn die Teamorder kam ja nur zustande, weil Red Bulls Konstrukteur Adrian Newey am Kommandostand Schiss hatte, die Reifen würden in die Knie gehen, wenn man sie im offenen Zweikampf zu sehr fordert. Dieses Detail zeigt wieder einmal: Die Politik, bewusst schlechte Pneus zu bauen, schadet der Formel 1. Und das, werter Leser, ist die eigentliche Lehre aus Malaysia.
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